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Wort zum Wochenende

Auf den Tisch steigen

Was für eine Szene! Im Kultfilm „Der Club der toten Dichter“ steigt der Schauspieler Robin Williams als Lehrer John Keating aufs Pult. Er fordert seine Schüler auf, es ihm gleich zu tun, um ihre Perspektive zu wechseln und für die eigenen Ideale einzutreten. Daraus erwachsen Mut und Zusammenhalt. Das erspart den jungen Menschen nicht die folgenden Auseinandersetzungen, aber es macht sie am Ende stark gegenüber den Einschüchterungen der Schulleitung. Eine Lehre fürs Leben.

Am Sonntag ist Wahltag. Wem immer Ihre Sympathien gehören - den meisten ist klar, dass ein „Weiter so!“ kein Rezept ist für die gewaltigen Herausforderungen der nächsten Jahre. Ich empfinde es als Vorteil unseres demokratischen Systems, dass die Parteien nach der Wahl an gemeinsamen Tischen ihre Koalitionsmöglichkeiten ausloten müssen. Wer dabei auch in die Perspektive des Gegenübers steigt und sich mit dessen Inhalten auseinandersetzt, hat die Chance, Vertrauen zu schaffen und gemeinsame Lösungen zu finden, ohne die eigenen Visionen zu verraten.

Zachäus, der kleine Zollpächter in Jericho, ist das biblische Vorbild für einen Perspektivwechsel. Um Jesus zu sehen steigt er nicht auf einen Tisch, sondern auf einen Maulbeerfeigenbaum. Eigentlich versteckt er sich. Er hat Angst vor den Leuten und kennt sein eigenes, ungerechtes Verhalten als Steuereintreiber im Dienst der römischen Besatzungsmacht. Aber die geheime Sehnsucht, dass sich in seinem wohlhabenden, aber einsamen Leben etwas verändert, sitzt mit dort oben. Das Unerwartete geschieht: Jesus sieht ihn. Unter seinen Augen gewinnt Zachäus Ansehen und neue Freiheit. Jesus kommt in sein Haus. Dort wird die neue Perspektive des Zachäus ins Leben übersetzt und gefeiert. Die Umstehenden stehen vor der Wahl, sich zu entscheiden. Folgen sie dem Propheten aus Nazareth und seinem „Programm“, Barrieren zu brechen, Ausgegrenzte in die Mitte zu stellen und sich für Versöhnung einzusetzen?

Was für eine Spannung! Welche Programme und Koalitionen werden am Sonntagabend in den Blick kommen?

Ihnen, liebe Leser:innen, und den politischen Mandatsträger:innen im neuen Bundestag wünsche ich die Fähigkeit, sich den Herausforderungen zu stellen. Wer sich in die Perspektive eines Menschen versetzt, der durch die Auswirkungen des Klimawandels in der Flut fast alles verloren hat oder wer einer alleinerziehenden Mutter zuhört, die jeden Euro dreimal umdrehen muss, wird sein alltägliches und politisches Handeln danach ausrichten, was der Schöpfung und der Gerechtigkeit dient. Wählende und Gewählte, die „auf den Tisch steigen“, die Perspektive wechseln und authentisch sind, machen unsere Gesellschaft stark und bauen Zukunft.

Burkhard Fecher, Gemünden

Pastoralreferent, Ehe- und Familienseelsorger,

Ehe-, Familien- und Lebensberater