Haben Sie, liebe Leserin, lieber Leser, manchmal auch den Wunsch, dem Alltag zu entfliehen, einfach abzuheben, die Enge der täglichen Anforderungen und die Einschränkungen durch Corona einfach unter sich zurück zu lassen und frei wie ein Vogel in die Weite des Himmels zu entschweben?
In der griechischen Mythologie wird von Ikarus erzählt: Um dem Labyrinth des Königs Minos auf Kreta zu entfliehen, baute er sich große Flügel aus Vogelfedern, die er mit Wachs zusammenklebte. Es gelang ihm tatsächlich, in die Lüfte aufzusteigen und durch die Wolken der irdischen Gefangenschaft zu entkommen. Doch als er der Sonne zu nahe kam, schmolz das Wachs, die Federn zerfledderten in alle Richtungen, Ikarus stürzte ins Meer. Die Geschichte von Ikarus ist seit alters her ein Bild für uns Menschen: Bei sinkenden Inzidenzwerten gibt es ja vielleicht tatsächlich bald wieder die Möglichkeit, durch einen Ausflug oder ein paar Tage Urlaub dem Labyrinth des Alltags zu entfliehen. Vielleicht kann man bald sogar auch wieder eine Flugreise machen? Wir sehnen uns ja so sehr nach Freiheit.
Doch was ist, wenn sich die Erwartungen nicht erfüllen? Was ist wenn die Ansprüche sich derart hochgeschraubt haben, höher und immer höher? Was ist, wenn die Höhenflüge nicht erfüllt werden? Was ist wenn plötzlich unausgesprochene Konflikte auftreten, Beziehungen ins Trudeln geraten, die Hochstimmung jäh abstürzt ins Meer?
Der Dichter des 139. Psalms hatte das wohl ähnlich erlebt. Er war auf der Flucht vor dem Alltag, vor sich selbst und vor Gott: Er schreibt (Verse 9-12): „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein, so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag“.
„Nähme ich Flügel der Morgenröte“, d.h. flöge ich soweit ich könnte nach Osten, wo die Sonne aufgeht, oder „bliebe ich am äußersten Meer“ (- das Mittelmeer ist für Israeliten immer im Westen), so würde ich auf all meinen Fluchtwegen auf Dich stoßen, Du liebevoll mitgehender Gott. Sogar ganz oben, in der höchsten Freude, sogar ganz unten, im tiefsten Leid: Du bist da! In allen Zeiten und Richtungen meines Lebens spüre ich Deine Hand; sogar im Tod: Das Dunkel, in dem ich mich verloren habe, wird klares helles Lebenslicht durch Dich!
Letzten Sonntag feierten wir Pfingsten: Es ist der Heilige Geist, der in uns bewirkt, dass wir mit unseren Sehnsüchten und Erwartungen ins Reine kommen und frei werden. Je mehr wir uns auf Gott ausrichten, ihm vertrauen und ihn wirken lassen, desto mehr werden wir Erfüllung finden im Alltag und in der Freiheit…
Bernd Töpfer
Evangelischer Pfarrer, Marktheidenfeld