Seit mehr als 100 Jahren wird am Volkstrauertag erinnert an die Opfer von Kriegen und Gewalt, nicht nur beider Weltkriege, sondern all der vielen Kriege, die seither unsere Welt erschüttert haben und noch immer viele Menschen quälen. Wir denken darüber hinaus auch an alle Opfer ungerechter Gewalt und wir nehmen all die Kriege in den Blick, die in Familien und Verwandtschaften, Nachbarschaften und Ortschaften ausgetragen werden.
All dies darf nie vergessen oder verdrängt, beschönigt oder bagatellisiert werden. Das wird durch das diesjährige Motto bekräftigt: „Erinnerung im Wandel“.
Er-innerung: das, was im Innersten des Herzens wohnt, darf und muss nach außen geholt werden. Gerade durch die Nähe des Krieges in der Ukraine brechen bei vielen Älteren die Erinnerungen an abscheuliche Kriegserlebnisse wieder hervor und erzeugen Angst und Hoffnungslosigkeit. Andere erinnern sich an Erzählungen der Eltern oder Großeltern, sind erschüttert über Bilder in den Medien, oder haben selbst schon Gewalt an Leib und Seele erfahren. Auch wenn dieses Er-innern schmerzlich ist, so wissen wir doch, dass es gut ist, Kummervolles nicht zu vergraben, sondern hervorzuholen und unter verschiedenen Aspekten immer wieder zu betrachten und darüber zu reden, damit es nicht unberechenbar plötzlich hervorbricht. Wir Christen können darüber hinaus alle Erfahrungen in Gottes Hand legen und ihn um Verwandlung bitten.
Heute gibt es ja leider die Tendenz, furchtbare Geschehnisse zu beschönigen oder klein zu reden. Schon der griechische Dichter Aischylos erkannte vor etwa 2500 Jahren: „Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer“ und sie bleibt Opfer, wenn man sich nicht erinnern darf oder möchte.
Nur die ans Licht geholte Erinnerung ermöglicht Verwandlung und Heilung. Dann können unsere Erinnerungen fruchtbar werden für uns, für unsere Mitmenschen und für die Menschheitsfamilie.
Dann ermutigen sie uns, aktiv zu werden, wenn Hasstiraden gebrüllt werden, wenn menschenverachtende Äußerungen am Stammtisch und anderswo zu hören sind, wenn Menschen mit Worten oder Blicken nieder gemacht werden oder wenn in unserer Umgebung Hilflose gemobbt oder ausgegrenzt werden. Nach dem zweiten Weltkrieg waren sich alle einig: „Nie wieder Krieg!“ – doch leider hat sich dieser Vorsatz nicht bewahrheitet. An uns ist es, in unserer nächsten Umgebung immer wieder kleine Schritte des Friedens zu versuchen. Uns nicht durch das Gefühl der Hilflosigkeit angesichts so vieler Brandherde entmutigen und lähmen zu lassen, sondern den ersten Schritt in Richtung der Verwandlung zu tun, die wir uns für die Welt wünschen. So wie ein afrikanisches Sprichwort sagt: „wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, werden sie das Gesicht der Welt verändern.“
Sr. Ulrike Stein
Gemeindereferentin Pastoraler Raum Marktheidenfeld