„Lauf' du mal mit solchen dicken Stiefeln, die so grässlich scheuern!" rief vor einigen Jahren unser damals 6-Jähriger bei einer Bergwanderung, den Tränen nahe. Ärgerlich hatten wir ihn immer wieder angetrieben, mitzuhalten. Als wir dann am Abend seine wunden Füße sahen, tat uns unsere Ungeduld Leid. „Hätt‘st halt ‘was g‘sacht!" - „Hab ich doch, aber ihr wollt so ‘was ja immer net wissen!" – Ist diese Begebenheit nicht ein Gleichnis dafür, wie wir Menschen uns gegenseitig unter Leistungsdruck setzen, ohne zu wissen wo den anderen der Schuh drückt? Wir haben große Erwartungen aneinander. Wenn jemand diese nicht erfüllt, sind wir enttäuscht. Wir wollen nicht verstehen: Warum handelt er oder sie nicht so, wie wir es für sinnvoll erachten oder für ethisch-moralisch richtig halten? Wir merken zwar, dass die Menschen, die unter unseren (oft unausgesprochenen) Erwartungen stehen, immer unglücklicher werden. Wir merken zwar, dass das Miteinander irgendwie gestört ist, doch wir wissen nicht warum. - In der Bibel sagt Jesus (im Lukas-Evangelium Kap. 6,36) „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“
Das ist die Jahreslosung, die uns für 2021 mitgegeben wird. Liest man den Zusammenhang kann man nur staunen, wie Jesus gleichsam mit chirurgischer Präzision den Punkt trifft, der das Übel in unserem Zusammenleben hervorruft: Die Eigensucht; die Krankheit, dass wir immer nur uns selbst sehen und uns selbst zum Maßstab aller Dinge machen. - „Seid barmherzig, wie Euer Vater im Himmel barmherzig ist.“ Gegen diese Eigensucht bietet Jesus ein „Heilmittel“ an: Er sagt: Bedenkt doch eins: Die Tatsache, dass Gott, der himmlische Vater barmherzig euch gegenüber ist, macht euch doch fähig, auch barmherzig mit euren Mitmenschen zu sein. Und Jesus wird noch konkreter. Er empfiehlt: „Richtet nicht, verdammt nicht, sondern vergebt einander, denn dann erfahrt auch ihr, wie befreiend Vergebung sein kann!“ Ein erster Schritt könnte der Versuch sein, sich in die Situation des anderen hineinzuversetzen. Denn wenn wir uns einfühlsam füreinander interessieren und nachfragen, wie es ihm oder ihr wirklich geht, werden wir erkennen, wo unseren Mitmenschen der Stiefel drückt. Und dann werden wir wie von selbst barmherziger mit ihm oder ihr umgehen.
Wenn wir unsere Mitmenschen wohlwollend wahrnehmen und ihren Einsatz wertschätzen, wird die gemeinsame Klettertour ins neue Jahr ein Weg sein, auf den wir uns freuen können.
Bernd Töpfer
Evangelischer Pfarrer, Marktheidenfeld