Mit dem Palmsonntag treten die Christen ein in die Heilige Woche. Es ist ein Tag der Gegensätze. Da ist das überschwängliche „Hosanna!“ zu hören, mit dem Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem von einer freudigen Menge als Messias begrüßt wurde – und wenig später das „Kreuzige ihn!“, mit dem ihn die Menge fallen ließ, in die Hand der Römer, in den Tod am Kreuz.
Das ging schnell, und es mutet sonderbar bekannt an. So mancher Fußballtrainer kann ein Lied davon singen: Heute gefeiert als der Neue, der das Ruder herumreißt – morgen vom Hof gejagt, als sei er ganz allein an der Misere schuld. Oder man denke an den Präsidenten eines großen europäischen Nachbarlandes, der vor ein paar Jahren als charismatischer Hoffnungsträger auf den Schild gehoben wurde – und für viele längst zur Hassfigur geworden ist, die gar nichts mehr recht machen kann. Die Reihe der Beispiele ließe sich noch lange fortsetzen.
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber Parallelen gibt es doch immer wieder, wohl deshalb, weil wir Menschen uns treu bleiben: Wir neigen dazu, andere zu Projektionsflächen unserer eigenen Erwartungen zu machen. Kein Wunder, dass wir immer wieder enttäuscht werden, wenn sich dann zeigt, dass andere so sind, wie sie sind, und nicht so, wie wir sie gerne hätten. Unsere Projektionen sagen letztlich über den anderen Menschen nichts aus, dafür umso mehr über uns selbst.
Das kommt in den besten Familien vor. Da sind die Kinder, die das können und werden sollen, was ihre Eltern gerne in ihnen sehen möchten. Da ist die rosa Brille, mit der jemand in der Partnerin oder dem Partner genau den Menschen erkennt, den sie oder er schon immer gesucht hat. Da sind die Vorurteile, die mir die Welt genau so zeigen, wie ich sie mir ohnehin schon gedacht hatte. Gewiss, man kann so durch das Leben gehen. Aber gerecht werden wir einander auf diese Weise in den meisten Fällen nicht.
Psalm 141 spricht eine sehr kluge Bitte aus: „Herr, stell eine Wache vor meinen Mund“ – und am besten gleich auch vor Kopf und Herz. Damit ich anderen die Freiheit lasse, sie selbst zu sein. Und wenn Du schon dabei bist, dann gib mir doch auch eine gesunde Neugier darauf, wie sie denn wirklich sind; sie anzusehen, bevor ich mir ein Bild mache; ihnen zuzuhören, bevor ich mir eine Meinung bilde; und mir nie so gewiss zu sein, dass ich nicht noch etwas Neues an ihnen entdecken könnte!
Vor uns liegt die Heilige Woche. Es sind Tage der Gegensätze, mit tiefsten Tiefen und höchsten Höhen. Der Gott, von dem der Weg Jesu Christi zeugt, ist abgründiger und großartiger als jedes Bild, das ich mir von ihm machen könnte. Mit dem Staunen über ihn werde ich nie fertig sein – und auch nicht über den Menschen, der allen Mängeln und Schwächen zum Trotz sein Abbild ist. Gott sei Dank.
Simon Schrott
Bis Mitte März 2021 Pfarrvikar in Karlstadt