Natürlich wird schon länger lebhaft über die Ursachen dieser stetigen Abwanderung aus den großen „Volkskirchen“ diskutiert – genauso wie über Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Ob bei den Gründen für die hunderttausend-, ja millionenfachen Austritte mehr die externen Ursachen der gesellschaftlichen Veränderungen oder überwiegend Fehler und Versagen der Kirchen und ihrer Vertreter selbst zu veranschlagen sind, wird man kaum abschließend beurteilen können. Jedenfalls spielen vielfältige Gründe aus beiden Bereichen eine Rolle.
Doch was soll man daraus für Schlüsse ziehen? Sollte sich die Kirche mehr an die Zeit anpassen? Sollte sie moderner werden, und wenn ja was heißt „moderner“ genau? Braucht es neue Formen und neue Räume für Gottesdienste und Gemeinschaft? Oder müssen gar traditionelle Glaubensüberzeugungen über Bord geworfen werden? Es lastet ein großer Reform- oder Veränderungsdruck auf den Kirchen, und es sind bei allen genannten Fragen sowohl auf Gemeindeebene als auch auf Gesamtkirchenebene eine ganze Reihe von Zerreißproben zu bestehen.
Aufs Ganze gesehen darf man von einer echten Identitätskrise der Kirchen sprechen – nicht des christlichen Glaubens selbst, aber der kulturellen Form des Christentums in unserem Land. Da darf man auf jeden Fall trauern. Und dass wir aussprechen, dass es uns um jeden einzelnen Getauften, der der Kirche den Rücken kehrt, leid tut, ist auch in Ordnung. Aber wir dürfen als Kirche nicht im Selbstmitleid versinken.
In einer Identitätskrise braucht es Besinnung und Beratung, keinen Aktionismus. Es gilt, sich neu zu finden. Dabei gründet die Identität der Kirche genauso wie die des einzelnen Christen nicht in sich selbst, sondern in Jesus Christus. Darum darf es auch nie verkürzt darum gehen, Menschen an die Kirche zu binden. Vielmehr geht es immer darum, Menschen einen Zugang zum dreieinigen Gott zu vermitteln. Dabei scheint es mir bei allen schlechten Gefühlen, die mit dem Mitgliederverlust, der ein Bedeutungsverlust ist, einhergehen, wichtig zu sein, dass wir uns als Kirche in Bescheidenheit üben. Es darf um Himmels willen nicht so erscheinen, als wollten wir gewisse Privilegien oder Machtstellungen erhalten. Hier hilft die Besinnung auf Jesus, der sich in Demut und Sanftmut empfohlen hat. Die junge Kirche hat es ihm nachgetan und dies mit Glaubens- und Lebensüberzeugungen verbunden, die sie ohne das Buhlen um öffentliche Beachtung bewusst als Kontrastgesellschaft – als „Salz der Erde“ und „Licht der Welt“ gelebt hat.
Till Roth, Evangelischer Dekan in Lohr a.Main