Haben Sie sich in diesem Jahr vielleicht auch dafür entschieden, in der Fastenzeit auf Alkohol, Nascherei oder Fleisch zu verzichten? Dann liegen Sie voll im Trend. Wie aus einer DAK-Studie zu entnehmen ist, steigt der Anteil von Personen, die fasten möchten, seit zehn Jahren an. Die meisten geben gesundheitliche Gründe für ihre freiwillige Einschränkung an. Während wir eine bewusste Entscheidung zum Verzicht als selbst gewählte Herausforderung verstehen und positiv annehmen, haben wir häufig kein Verständnis für Einschränkungen, die uns von außen auferlegt werden.
„Warum nur bin ich so traurig? Warum ist mein Herz so schwer?“ Dieser Satz könnte gut aus einem aktuellen Kommentar zur Corona-Pandemie stammen. Tatsächlich habe ich ihn nicht aus einem solchen herausgepickt, sondern aus der Bibel. Psalm 43 steht in enger Beziehung mit dem Namen des kommenden Sonntags: Judika. Der Psalm beginnt mit den Worten: „Gott schaffe mir Recht“. Natürlich hat der Verfasser des Psalms nicht an eine Pandemie im 21. Jahrhundert gedacht, aber der Schrei nach Gerechtigkeit und die Schilderung der inneren Unruhe verbinden uns mit dem alttestamentlichen Dichter. Die meisten warten schon ungeduldig auf weitere Lockerungen, darauf ihr altes Leben wieder aufnehmen zu können. Viele machen Pläne, würden gerne ihr Geschäft wieder öffnen, träumen davon, im Gasthaus zu sitzen, im Schwimmbad Bahnen zu ziehen oder mit Verwandten und Freunden zu feiern.
Träume ermöglichen uns, die Realität einen Augenblick auszublenden. Eine kurze Auszeit trägt zu unserer Erholung bei. Andererseits sollte man die Wirklichkeit nicht ganz aus den Augen verlieren. So betont der Theologe Meister Eckhart: „Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der dir gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk stets die Liebe.“ Ihm geht es um unsere seelische, mentale Gesundheit. Der mittelalterliche Mystiker ruft dazu auf, bewusst zu leben. Achtsam zu sein. Achtsamkeit bedeutet ganz da zu sein, körperlich und geistig. Den Moment mit allen Sinnen zu ergreifen. Achtsamkeitsmeditationen helfen, die Gedanken von Vergangenheit und Zukunft auf die Gegenwart zu richten. Auch ohne aufwändige Meditationsübungen reicht bisweilen ein authentischer Moment, um neue Kraft zu schöpfen. Dann freuen wir uns vielleicht über die Kurznachricht eines Freundes, ohne gleich zu bedauern, dass wir ihn nicht treffen können. Wir staunen über die ersten Schneeglöckchen im Garten, ohne uns darüber zu ärgern, nicht in den Urlaub fliegen zu können, und schnappen bei einem Sparziergang frische Luft, ohne traurig an die Badesachen im Schrank zu denken.
Meister Eckarts Worte sind mehr als ein Appell, sich mit der Gegenwart zu arrangieren. Es geht nicht darum, den verordneten Verzicht zu glorifizieren. Er fordert vielmehr dazu auf, das Beste aus der Situation zu machen.
Sonja Siegismund
Evangelische Religionslehrerin in Lohr a. Main