Wo ist Gott? So fragen viele Menschen. „Wenn ich ihn sehen könnte“, so sagen mir viele Jugendliche, „dann würde ich auch an ihn glauben.“ Ist das Sehen wirklich eine notwendige Voraussetzung, um gläubig sein zu können?
Ich denke an folgende Geschichte: Einmal überraschte auf einem Schiff der Kapitän einen der Schiffsjungen, wie er gerade in seiner Kajüte betete. Er packte ihn beim Kragen und polterte los: „Gott gibt es überhaupt nicht. Das ist doch alles eine Einbildung von Angsthasen. Zeige mir Gott! Ich habe ihn noch nie gesehen.“ Darauf sagte der Schiffsjunge ganz ruhig: „Herr Kapitän, selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ Wortlos und nachdenklich verließ der Kapitän die Kajüte.
Gott sehen, ihn erkennen, seine Liebe empfangen, seine Hilfe erfahren, seine Güte wahrnehmen – das ist alles eine Frage der Einstellung unseres Herzens. „Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“ – so beschreibt Martin Luther die richtige Einstellung zu Gott. Aber wir fürchten eine Minderung unserer Lebensqualität mehr als Gott, der doch die Quelle des Lebens ist. Wir lieben uns und unsere Gesundheit mehr als Gott, der uns täglich am Leben erhält. Und wir vertrauen mehr auf andere Menschen, auf Geld und Einfluss als auf Gott. Das sind größere Glaubenshindernisse als die Tatsache, dass wir Gott nicht sehen.
Dann denke ich auch an das Wort von Jesus: „Wer mich sieht, der sieht den Vater!“ Das heißt, es gibt eine Person, in der ich Gott erkennen kann! In Jesus hat sich Gott zu uns herab gebeugt und sich uns geöffnet. Lassen wir uns darauf ein? Vier eindrückliche Berichte über Jesus sind uns in den vier Evangelien der Bibel überliefert. Nehmen wir das ernst?
Einmal kam ein Schüler zu seinem Rabbi, einem jüdischen Weisheitslehrer, und fragt ihn: „Rabbi, in unseren alten Schriften lesen wir, dass Gott den Menschen begegnet ist und dass die Menschen mit Gott gesprochen haben. Warum begegnen wir Gott heute nicht mehr?“ Der Rabbi denkt einen Moment nach und antwortet dann: „Weil sich niemand mehr so tief bücken will!“
Gott ist ganz klein geworden! Wir suchen ihn hinter der fernsten Galaxie am falschen Ort! Aber er ist auf diese Erde gekommen. Er ist in Jesus als Mensch erschienen! Und hat vieles erlitten! Ob wir uns so tief bücken können? „Wer mich sieht, sieht Gott, den himmlischen Vater!“ Das ist eine Einladung und zugleich etwas höchst Anstößiges. Viele andere Wege werden damit in Frage gestellt, ja sogar behauptet, dass sie nicht zum Ziel führen. An diesem Punkt kennt Jesus keine Toleranz. Und doch lohnt es sich, ihn deswegen nicht intolerant abzulehnen, sondern seine Einladung zu hören und diesen Weg auszuprobieren.
Till Roth
Evangelischer Dekan in Lohr am Main